Peter Stamm „Blitzeis“ - Eine sowohl subtile, als auch brillante Gesellschaftsstudie
'Blitzeis'. Mit
diesem Wort verbinden die meisten Menschen vermutlich
Verkehrsmeldungen im Radio oder Unwetterwarnungen am Ende der
Tagesschau. Der Schweizer Autor Peter Stamm wählte es als Titel für
eine Sammlung von unabhängigen Erzählungen, die zwischenmenschliche
Beziehungen schildern, bei denen die Verbindung zum Titel dem Leser
erst spät in den Sinn kommt – wenn überhaupt, den n
Pärchenurlaube in Italien, Kanutouren in Schweden oder flüchtige
Barbekanntschaften in New York klingen eher nach dem
Wochenendprogramm der öffentlich-rechtlichen.
Tatsächlich
wirken die Erzählungen als Ganzes sowie jede einzelne für sich nach
dem ersten Lesen grauenhaft platt und entbehren jeder Aussagekraft,
das Lesen befriedigt die Anforderungen, die man beim Heranwagen an
das Buch hat (und mögen sie noch so gering sein) in keiner Weise.
Das Lesen der Erzählungen ist direkt frustrierend, weil man vom
reinen Betrachten nichts mitnehmen kann. So schildert die
Titelgeschichte 'Blitzeis' die Vorkommnisse und Erlebnisse eines
Journalisten aus der Ich-Perspektive, während dieser eine Reportage
über eine an unheilbarer Tuberkulose erkrankte junge Frau schreibt.
Die Geschichte endet mit dem Tod der Frau, welcher dem Erzähler per
Grußkarte des behandelnden Arztes mitgeteilt wird. Stamm schildert
die Handlung aus Sicht des Journalisten mit einer vollkommen
alltäglichen Wortwahl und einer so erschreckenden Beiläufigkeit,
dass man als Leser gewillt ist, das Buch wegzulegen und fortan nicht
mehr in die Hand zu nehmen. Jedoch steht 'Blitzeis' am Ende der
Erzählsammlung, weshalb man diese dann auch zu Ende lesen kann.
Diese
Positionierung hat jedoch einen noch tiefergreifenden Grund, welcher
mit dem erwähnten „Erschrecken“ zusammenhängt:
Die letzte
Erzählung eröffnet dem Leser den zweiten Blick, den tiefergehenden,
der ihm das Erkennen der subtilen Schilderung extremer
zwischenmenschlicher Missstände in nahezu jeder der enthaltenen
Erzählungen ermöglicht. Und dieser ist schockierend.
Bezogen auf die
Titelgeschichte merkt man nun, wie oberflächlich und falsch das
Verhalten des Journalisten und anderer Personen ist. Man erkennt nun
den beunruhigenden Mangel an Empathie, den die handelnden Charaktere
vorweisen. Was vorher wie ein dem Autor eigener Mangel an
Personengestaltung aufgenommen wurde, erscheint nun als Mittel zum
Zweck, als Hilfestellung zum Aufzeigen von all der Oberflächlichkeit,
der Egozentrie und der Gleichgültigkeit, die in zwischenmenschliche
Beziehungen und gesellschaftliches Leben Einzug gehalten hat.
Wenn der Leser
diese Möglichkeit des zweiten Blocks wahrgenommen hat, dann ist es
Zeit jede Erzählung noch einmal eingehend zu betrachten – Es
sollten einige Veränderungen in der Wahrnehmung auffallen:
Vormals
bedeutungslose Gespräche über die eigene Beziehung mit an ihr
Unbeteiligten erscheinen nun als Kritik an der Unfähigkeit der
Partner, ihre Probleme anzusprechen und zu lösen. Der Abbruch eines
Pärchenurlaubs von einer der beiden Frauen, der beim ersten Lesen
hingenommen und nicht hinterfragt wird, entwickelt sich in der
Deutung zur Flucht aus der Sinnlosigkeit aber auch vor den eigenen
Problemen.
Es fiele nun
leicht, Peter Stamm als unverbesserlichen Zyniker abzustempeln, doch
entspräche dies den Handlungsschemata, die er selbst als
oberflächlich kritisiert. Stamm stellt mit diesem Erzählband auch
Fragen, zum Beispiel die Frage nach Glück oder ob das Verhalten von
Menschen untereinander, das von Bedeutungslosigkeit, Gleichgültigkeit
und Ignoranz geprägt ist, so hinnehmbar ist.
Emotionale
Figuren sind buchstäblich Mangelware in den verschiedenen
Erzählungen, ebenso Charaktertiefe, die Gespräche sind ergebnis-
und belanglos. Doch Peter Stamm benutzt all dies. Er benutzt es zur
pessimistischen aber bestimmten Schilderung der Gesellschaft, die
jedoch keines falls zynisch ist, ich würde sie gar als realistisch
bezeichnen. Mit dieser Schilderung zielt der Autor auf ein (zuerst
unterbewusstes) Wachrütteln des Lesers ab. Er möchte, dass man vom
Lesen doch etwas mitnimmt. Denkanstöße zur kritischen Betrachtung
des eigenen zwischenmenschlichen Handelns und Verhaltens und dessen
anderer.
Und genau das
sollte man mit diesem beeindruckenden Werk einer gegenwärtigen
Gesellschaftsstudie tun. Lest es, und falls euch die letzte
Erzählung den bereits geschilderten tieferen Blick ermöglicht hat,
führt euch die anderen Teile des Bandes noch einmal zu Gemüte
und redet mit Familie und Verwandten darüber. Oder mit Freunden,
wenn ihr mehr als belanglose Dialoge mit diesen führt.
Erst diese
eingehende und vielseitige Betrachtung öffnet den Zugang zur
konkurrenzlos klaren, grausamen und doch subtilen Schilderung von
Peter Stamm und zur Bedeutung des Titels:
Blitzeis steht
metaphorisch für die beispiellose Kälte, die in die Welt der
zwischenmenschlichen Beziehungen Einzug gehalten hat.
Klar sollte
aber auch sein, dass sich diese Betrachtung nur unter bestimmten
Bedingungen lohnt. Ohne Interesse an fordernder Literatur und den
Willen der geistigen Weiterentwicklung und der von neuen Denkansätzen
ist die Lektüre, wie eingangs gesagt, wertlos und, was noch
schlimmer ist, schlichtweg frustrierend.
Allen Menschen,
die diese Bedingungen erfüllen, sei gesagt: Wagt das Experiment
'Blitzeis'. Es wird sich auszahlen.
Noch ein paar abschließende Worte von mir:
1. Bücher sind noch lange nicht out.
2. Mein erster Post als Mitglied dieses grandiosen Kollektivs, hoffentlich gefällt er.
Und jetzt gehts kochen. Viel Spaß mit dem Buch!
© Tobias Finger 2012
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