20120404

#049 // n.n's 1st book recension


Peter Stamm „Blitzeis“ - Eine sowohl subtile, als auch brillante Gesellschaftsstudie


'Blitzeis'. Mit diesem Wort verbinden die meisten Menschen vermutlich Verkehrsmeldungen im Radio oder Unwetterwarnungen am Ende der Tagesschau. Der Schweizer Autor Peter Stamm wählte es als Titel für eine Sammlung von unabhängigen Erzählungen, die zwischenmenschliche Beziehungen schildern, bei denen die Verbindung zum Titel dem Leser erst spät in den Sinn kommt – wenn überhaupt, den n Pärchenurlaube in Italien, Kanutouren in Schweden oder flüchtige Barbekanntschaften in New York klingen eher nach dem Wochenendprogramm der öffentlich-rechtlichen.
         
Tatsächlich wirken die Erzählungen als Ganzes sowie jede einzelne für sich nach dem ersten Lesen grauenhaft platt und entbehren jeder Aussagekraft, das Lesen befriedigt die Anforderungen, die man beim Heranwagen an das Buch hat (und mögen sie noch so gering sein) in keiner Weise. Das Lesen der Erzählungen ist direkt frustrierend, weil man vom reinen Betrachten nichts mitnehmen kann. So schildert die Titelgeschichte 'Blitzeis' die Vorkommnisse und Erlebnisse eines Journalisten aus der Ich-Perspektive, während dieser eine Reportage über eine an unheilbarer Tuberkulose erkrankte junge Frau schreibt. Die Geschichte endet mit dem Tod der Frau, welcher dem Erzähler per Grußkarte des behandelnden Arztes mitgeteilt wird. Stamm schildert die Handlung aus Sicht des Journalisten mit einer vollkommen alltäglichen Wortwahl und einer so erschreckenden Beiläufigkeit, dass man als Leser gewillt ist, das Buch wegzulegen und fortan nicht mehr in die Hand zu nehmen. Jedoch steht 'Blitzeis' am Ende der Erzählsammlung, weshalb man diese dann auch zu Ende lesen kann.
Diese Positionierung hat jedoch einen noch tiefergreifenden Grund, welcher mit dem erwähnten „Erschrecken“ zusammenhängt:
Die letzte Erzählung eröffnet dem Leser den zweiten Blick, den tiefergehenden, der ihm das Erkennen der subtilen Schilderung extremer zwischenmenschlicher Missstände in nahezu jeder der enthaltenen Erzählungen ermöglicht. Und dieser ist schockierend.
Bezogen auf die Titelgeschichte merkt man nun, wie oberflächlich und falsch das Verhalten des Journalisten und anderer Personen ist. Man erkennt nun den beunruhigenden Mangel an Empathie, den die handelnden Charaktere vorweisen. Was vorher wie ein dem Autor eigener Mangel an Personengestaltung aufgenommen wurde, erscheint nun als Mittel zum Zweck, als Hilfestellung zum Aufzeigen von all der Oberflächlichkeit, der Egozentrie und der Gleichgültigkeit, die in zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliches Leben Einzug gehalten hat.
           Wenn der Leser diese Möglichkeit des zweiten Blocks wahrgenommen hat, dann ist es Zeit jede Erzählung noch einmal eingehend zu betrachten – Es sollten einige Veränderungen in der Wahrnehmung auffallen:
Vormals bedeutungslose Gespräche über die eigene Beziehung mit an ihr Unbeteiligten erscheinen nun als Kritik an der Unfähigkeit der Partner, ihre Probleme anzusprechen und zu lösen. Der Abbruch eines Pärchenurlaubs von einer der beiden Frauen, der beim ersten Lesen hingenommen und nicht hinterfragt wird, entwickelt sich in der Deutung zur Flucht aus der Sinnlosigkeit aber auch vor den eigenen Problemen.

           Es fiele nun leicht, Peter Stamm als unverbesserlichen Zyniker abzustempeln, doch entspräche dies den Handlungsschemata, die er selbst als oberflächlich kritisiert. Stamm stellt mit diesem Erzählband auch Fragen, zum Beispiel die Frage nach Glück oder ob das Verhalten von Menschen untereinander, das von Bedeutungslosigkeit, Gleichgültigkeit und Ignoranz geprägt ist, so hinnehmbar ist.
Emotionale Figuren sind buchstäblich Mangelware in den verschiedenen Erzählungen, ebenso Charaktertiefe, die Gespräche sind ergebnis- und belanglos. Doch Peter Stamm benutzt all dies. Er benutzt es zur pessimistischen aber bestimmten Schilderung der Gesellschaft, die jedoch keines falls zynisch ist, ich würde sie gar als realistisch bezeichnen. Mit dieser Schilderung zielt der Autor auf ein (zuerst unterbewusstes) Wachrütteln des Lesers ab. Er möchte, dass man vom Lesen doch etwas mitnimmt. Denkanstöße zur kritischen Betrachtung des eigenen zwischenmenschlichen Handelns und Verhaltens und dessen anderer.
           Und genau das sollte man mit diesem beeindruckenden Werk einer gegenwärtigen Gesellschaftsstudie tun. Lest es, und falls euch die letzte Erzählung den bereits geschilderten tieferen Blick ermöglicht hat, führt euch die anderen Teile des Bandes noch einmal zu Gemüte und redet mit Familie und Verwandten darüber. Oder mit Freunden, wenn ihr mehr als belanglose Dialoge mit diesen führt.
Erst diese eingehende und vielseitige Betrachtung öffnet den Zugang zur konkurrenzlos klaren, grausamen und doch subtilen Schilderung von Peter Stamm und zur Bedeutung des Titels:
Blitzeis steht metaphorisch für die beispiellose Kälte, die in die Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen Einzug gehalten hat.
          Klar sollte aber auch sein, dass sich diese Betrachtung nur unter bestimmten Bedingungen lohnt. Ohne Interesse an fordernder Literatur und den Willen der geistigen Weiterentwicklung und der von neuen Denkansätzen ist die Lektüre, wie eingangs gesagt, wertlos und, was noch schlimmer ist, schlichtweg frustrierend.
Allen Menschen, die diese Bedingungen erfüllen, sei gesagt: Wagt das Experiment 'Blitzeis'. Es wird sich auszahlen.


Noch ein paar abschließende Worte von mir:
1. Bücher sind noch lange nicht out.
2. Mein erster Post als Mitglied dieses grandiosen Kollektivs, hoffentlich gefällt er.

Und jetzt gehts kochen. Viel Spaß mit dem Buch!

© Tobias Finger 2012

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