20121013

#058 // aussteigen.

Ich sitze im Zug nach Paris. Großraumabteil, Viererplatz mit Tisch, allein. Ich lese und genieße die Ruhe. Nur ein bisschen Musik.
Plötzlich taumeln Menschen an mir vorbei. Nichts ungewöhnliches in einem fahrenden ICE. Beide Personen stürzen auf die beiden mir gegenüberliegenden Plätze. Rechts eine Frau, links ein älterer Herr. Das erste, was mir auffällt sind die leeren Pfandflaschen in ihrer Handtasche. Das zweite der Alkoholdunst und ihre Trunkenheit. Sie gehören nicht hierher.
Die Frau ist fett, trägt Crocks und hässliche Klamotten. Er vertraut auf den Kinderschänder-Style. Die Art von Onkel, die man nie haben will.
Die kleinen Regionalbahntickets in seiner Hand enthüllen schüchtern, was die Dame bereits lautstark verkündet: „Wir sind im falschen Zug! Wir wollten nach Dunsch!“ Heiserstes Lachen folgt, es schüttelt ihren massigen Körper, geht über in ein für alle Lauschenden schmerzhaftes Raucherröcheln.
Ich drehe den mp3Player etwas lauter, vertiefe mich in mein Buch. Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn mit einem Zugbegleiter sprechen. Während sie wieder lacht, macht er dem Schaffner unmissverständlich klar, dass sie an allem Schuld ist und er jegliche Verantwortung von sich weist. Er deutet an, seiner Frau dafür ordentlich eine zu verpassen, sie lacht unabhängig davon weiter. Als ihm der Zugbegleiter verbietet, die fette Frau zu vermöbeln, scheint er traurig, wie ein kleines Kind und nuschelt ein enttäuschtes „Doch“.
Wir fahren weiter. Sie beginnt, ihre Pfandhandtasche zu entleeren, reiht die Flaschen auf dem Tisch aus. Als sie eine noch ungeöffnete entdeckt, packt sie den Rest glücklich wieder zurück. Ihr (ich vermute) Gatte redet auf mich ein, versucht mir in Dauerschleife klarzumachen, was alle im Abteil bereits wissen: „Wir wollten nach Dunsch!
Ich ignoriere ihn so gut wie möglich, sage: „M-hm.“ Mehr fällt mir nicht ein.
Währenddessen bemüht sie sich, ihr Bier mit einem Feuerzeug zu öffnen. Minutenlang. Das Feuerzeug zersplittert nach und nach. Dann rinnt das Bier endlich ihre Kehle. Glücklich beginnt sie wieder, ihren Gatten anzubrüllen. Ich verstehe kein Wort. Akzent, Trunkenheit und lautes Lachen erschweren das auditive Entziffern. Da sie vorhin bereits eine leere Bierflasche quer über den Tisch gefegt hat, bringe ich möglichst unauffällig meine Tasche und mein Buch in Sicherheit. Aufstehen wäre mir noch unangenehmer. Unauffällig bleiben.
Er fragt mich, was der nächste Halt ist. „Saarbrücken“, sage ich und wiederhole damit das, was schon zwei mal durchgesagt wurde.
Sie prustet Biernebel. Verschlucken, Hustenanfall.
„Alles in Sicherheit?“, frage ich mich panisch. Ich überlege, in welche Richtung ich aufspringe, wenn das Bier fällt.
So weit kommt es nicht, er ext es weg. „Stabil“, denke ich, während ihr Handy unter den Pfandflaschen losgeht. Laut. Sie flucht.
„Halt's Maul!“, brüllt sie in ihre Tasche. Den Spruch bekam bisher nur ihr Mann zu hören. Ich frage mich, welcher traurigen Vereinssitzung die beiden entflohen sind. Sie hat ihr Handy zwischen ihre Wurstfinger bekommen. Bisher dachte ich, sie hätte ein lautes Organ. Nun schreit sie.
„JAA? JÜRGÄÄN?! Wir fahren grad nach Paariis!“ Hahahahahahahihihihusthust Huströchel. „NAIIN! ICH KANN NICHT SO LAUT REDEN! - ICH BIN IM ZUUHUG!“
Der Zugführer gibt durch, dass in Saarbrücken Anschluss nach Pirmasens besteht. Als sie das hört, wird Jürgen am Telefon zur Lagebesprechung weiter angebrüllt.
Ich drehe meinen Lautstärkeregler auf Anschlag. „Zeig was du kannst kleiner Mann“, feuere ich meinen mp3Player an.
Er fragt mich, was der nächste Halt ist. Mehrfach, weil ich erst die Kopfhörer absetzen muss. Sie stimmt währenddessen mit ein.
„Saarbrücken“, sage ich.
Jürgen wird deutlich mitgeteilt, dass man jetzt aussteigt.
Er berichtet noch schnell, dass man versuchen werde, auf Gleis 6 den Zug nach Pirmasens zu bekommen, um irgendwie nach Dunsch zu gelangen.
„Ach“, sage ich.
Dann hält der Zug. Im Gehen macht sie ihrem Mann für alle verständlich klar, dass man nun aussteigen müsse. Zustimmung.



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